Die Sozial- und Ungerechtigkeitskritik einiger Schriftpropheten im Alten Testament steht in engem Zusammenhang mit wirtschaftlichen Umwälzungen und deren Auswirkungen. So fand in Israel mit dem Königtum ein Übergang von der Subsistenzwirtschaft mit selbstversorgenden Familien hin zu Großgrundbesitzern statt, welche ihre Ländereien verpachteten und dafür einen gewissen Eigenanteil an der Ernte verlangten. Diese sozialökonomischen Verschiebungen werden insbesondere von den Propheten Amos, Hosea, Micha und Jesaja hinsichtlich der zunehmenden Ungerechtigkeit, Gier und Unterdrückung kritisch hinterfragt. So kündigen im 8. Jahrhundert insbesondere Amos, Jesaja und Micha das Strafgericht Gottes an, welcher auf der Seite der Armen und Unterdrückten steht. Im 7. Jahrhundert treten dann die Propheten Zefanja, Jeremia und Hesekiel mit ihrer Sozialkritik in Erscheinung.
Amos wirkte im Nordreich Israel in einer Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs. Dabei zielt seine Kritik insbesondere immer wieder darauf ab, dass von dem wirtschaftlichen Aufschwung nur wenige Bevölkerungsgruppen profitierten, während andere sich verstärkt in eine wirtschaftliche Abhängigkeit und damit in Unfreiheit begeben mussten. Amos weist darauf hin, dass jede Form von Gottesanbetung hinsichtlich der sozialen Ungerechtigkeit seinen Wert verliert. Damit verdeutlicht er, dass ohne das Streben nach sozialethischem Handeln die Gottesbeziehung gestört ist. Die bei Amos dominierende Sozialkritik führt zur Ankündigung bedrohlicher Zukunftsvorhersagen. Dabei werden zwar zunächst insbesondere die Täter adressiert, zugleich wird jedoch auch deutlich, dass das gesamte Land und ihre Bevölkerung durch militärische Niederlagen und Naturkatastrophen in Mitleidenschaft gezogen werden. Amos verdeutlicht, dass der Zorn Gottes die Herrscher und Unterdrücker treffen wird, welche die Verelendung der Kleinbauern verursachen. Exemplarisch wird die mit deutlichen Anklagen versehene Kritik des Propheten Amos anhand von Amos 6 deutlich:
Wehe den Sorglosen in Zion und den Sicheren auf dem Berg von Samaria, den Vornehmsten des ersten der Völker, zu denen das Haus Israel kommt! Geht hinüber nach Kalne und seht es euch an, und kommt dann von dort nach Hamat, der großen Stadt; steigt auch hinab nach dem Gat der Philister! Seid ihr besser als diese Königreiche, oder ist ihr Gebiet größer als euer Gebiet? Ihr meint, ihr könntet den Tag des Unheils hinausschieben, und bringt doch den Thron der Gewalttat immer näher! Sie liegen auf elfenbeinernen Betten und strecken sich auf ihren Ruhelagern aus und verzehren Fettschafe von der Herde weg und Kälber frisch aus dem Maststall; sie fantasieren auf der Harfe und erfinden Musikinstrumente wie David; sie trinken Wein aus Schalen und salben sich mit den besten Ölen; aber um den Schaden Josephs kümmern sie sich nicht!
Amos 6,1-6
Während die ersten drei hier zitierten Verse die Politik und die Rechtsprechung der Herrschenden kritisch hinterfragen, wenden sich die nachfolgenden drei Verse dem Privatleben und der Genusssucht der betreffenden Personen zu. Diese Verbindung von Herrschaftskritik und Kritik an der Vergnügungssucht der Mächtigen wurde auch im Buch Kohelet deutlich und zeigt auf, dass Reichtum und wirtschaftliche Macht immer wieder mit verantwortungsloser Leiterschaft in Verbindung gebracht wird. Die Verse 3 bis 6 malen auf eindrucksvolle Art und Weise den ungeheuren Luxus vor Augen, den die genannte Gruppe genoss, während ein Großteil der Bevölkerung unter Armut litt.
Bei Jesaja findet sich ebenfalls eine vehemente Herrschaftskritik, die sich an die Ungerechtigkeit der jüdischen Oberschicht im Südreich Juda wendet. Dabei ist der Prophet Jesaja nicht von der Vorstellung einer klassenlosen Gesellschaft geleitet. Vielmehr treibt ihn der Gedanke an, dass die Regierenden in Jerusalem von Gott eingesetzt sind, um gerechte Verhältnisse im Reich herzustellen und sich für die Witwen, Waisen und Armen einzusetzen. Auch Jesaja sieht das Wesentliche Problem der damaligen Zeit darin, dass sich der Grundbesitz in den Händen weniger Menschen aus der Oberschicht konzentriert. Diese reiche Oberschicht kann im Luxus leben, während die Kleinbauern ihrer Existenzgrundlage beraubt sind und im Rahmen des Schuldenwesens in eine langfristige Abhängigkeit geraten. Dabei ist das Schuldenwesen nicht zwingend als eine aus damaliger Perspektive illegale Vorgehensweise zu betrachten. Bei den Texten, welche explizit die ökonomische Verelendung gewisser Gruppen anprangern (Jes 3,12-15; Jes 5,8-10), wird nicht konkret ein Rechtsbruch in der wirtschaftlichen Praxis kritisiert. Dennoch wird im Buch des Propheten Jesaja an verschiedenen Stellen erkennbar, dass die Konzentration von Besitz in einigen wenigen Personen einer bestimmten Schicht an sich Kennzeichen für den Mangel an Gerechtigkeit ist. Dabei ist sich Jesaja darüber im Klaren, dass die Sozialgerechtigkeit untrennbar mit dem Rechtswesen verbunden ist. So kann nur durch die Gerechtigkeit im Rechtswesen der Ruf nach der Umgestaltung von sozialer Ungerechtigkeit beantwortet werden. In diesem Fall zeigt sich in der Person Jesaja die Schwierigkeit darin, dass er die Umsetzung der Rechte von Armen, Witwen und Waisen zwar einfordern und die reiche Oberschicht mit ihrer Falschheit konfrontieren kann, er ist aber nicht in der Lage ganz praktisch diese Rolle des Fürsprechers und Kritikers in Veränderungen umzusetzen. Denn die wirtschaftliche Elite hat im Königreich Juda auch die Gewalt über das Recht und damit müsste die Initiative zur Aufrichtung der Gerechtigkeit auch von ihnen ergriffen werden.
Lernt Gutes tun, trachtet nach dem Recht, helft dem Bedrückten, schafft der Waise Recht, führt den Rechtsstreit für die Witwe!
Jesaja 1,17
Die reiche Oberschicht hat durch das System der Abhängigkeit in Form von Schulden dafür gesorgt, dass die wirtschaftliche Überlegenheit manifestiert wird und die wirtschaftlich Schwachen ihnen bei zukünftigen Vertragsschlüssen und wirtschaftlichen Vereinbarungen schutzlos ausgeliefert sind.
Eine klare Formulierung der von Jesaja kritisierten Ungerechtigkeit findet sich in Jesaja 5,8:
Wehe denen, die ein Haus ans andere reihen, ein Feld zum anderen fügen, bis kein Platz mehr bleibt und ihr allein mitten im Land wohnt!
Jesaja 5,8
Gott hatte seinem Volk das Land als Lehnsgabe geschenkt, doch durch die Unmöglichkeit für untere Schichten das geerbte Land vor Gerichten einzuklagen, zeigt sich ein Vergehen gegen Gott, welcher die eigenmächtige Veränderung an den Eigentumsrechten nicht vorgesehen hatte. Das Aneinanderreihen von Feld und Haus durch die oberen Schichten wurde möglich, weil die Großgrundbesitzer irgendwann eine wirtschaftliche Übermacht hatten, die ihnen den weiteren Erwerb von Land unter Druck geratener Kleinbauern ohne Probleme ermöglichte.
Bezüglich der Gegenwart sind wir mit der Herausforderung des Maßhaltens konfrontiert. Die Propheten im Alten Testament fordern keine klassenlose Gesellschaft oder die generelle Abschaffung des Schuldenwesens. Dennoch wird die entstehende Gefahr angesprochen, wenn finanzielle Überlegenheit sich so stark verfestigt, dass sich in der reichen Oberschicht auch die gesamte Macht bündelt. In einer solchen Situation ist die Gefahr von Machtmissbrauch und Ungerechtigkeit besonders stark.
Berlejung, Angelika. „Grundinformation Altes Testament. Eine Einführung in Literatur, Religion und Geschichte des Alten Testaments.“
Grünwaldt, Klaus. „Wirtschaft und Geld – biblische Perspektiven.“
Høgenhaven, Jesper. „Gott und Volk bei Jesaja: eine Untersuchung zur biblischen Theologie.“
Holland, Martin. „Die Propheten Joel, Amos und Obadja.“
Kessler, Rainer. „Staat und Gesellschaft im vorexilischen Juda: vom 8. Jahrhundert bis zum Exil.“
Kessler, Rainer. „Soziale Ungerechtigkeit und die Intervention Gottes. Armut und Reichtum als Thema des Buches der Sprichwörter.“
Kessler, Rainer. „Amos.“
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