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Nachfolge

Jesus als Kind im Tempel

Jesus suchte sich Lehrer, er hörte zu, er stellte Fragen und er gab Antworten. Wenn der Sohn Gottes so vorging, um ein tieferes Verständnis der Heiligen Schrift zu bekommen, wie viel mehr ist es unsere Aufgabe? Wie viel Eifer haben wir darin? Welche Priorität räumen wir dem Wort Gottes ein? Wie sicher sind wir in unserer Theologie? Sind wir uns über der Gefahr bewusst, der wir uns aussetzen, wenn wir die Fähigkeit verlieren, Dinge an dem Wort Gottes zu prüfen?

Die Reise von Jesus auf dieser Welt beginnt wohl irgendwann zwischen 7 und 4 v. Chr. mit seiner Geburt. Man möchte an dieser Stelle vielleicht schon einwenden und darauf hinweisen, dass es sich doch eigentlich um das Jahr 0 handeln müsste. Die Problematik liegt jedoch darin, dass unsere Zeitrechnung auf den Mönch Dionysius Exiguus und das Jahr 525 zurückgeht. Damals wollte Dionysius Exiguus für Papst Johannes I. die Daten kommender Osterfeste ermitteln. Er berechnete dabei das Geburtsjahr von Jesus anhand seiner verfügbaren Quellen und hat sich offensichtlich um 4 bis 7 Jahre vertan. Ein klassischer Praktikantenfehler, bei dem ein Point of no Return entsteht, wo die Rückabwicklung des Fehlers komplizierter und schmerzhafter ist, als einfach weiterzumachen, ohne sich etwas anmerken zu lassen. Der Fehler bei der Zeitrechnung passt aber in gewisser Weise zum Gesamteindruck, wie Gott durch die Hintertür in seine Schöpfung hineinschlüpft. Er kommt nicht als gefeierter Held zum Forum Romanum oder nach Alexandria und Athen. Stattdessen kommt er als Säugling zur Welt während in Rom, dem Machtzentrum der damaligen Welt, alles wie gewohnt weiterläuft.

Jesus wächst dann auf in Galiläa, einem überschaubaren Gebiet im Norden Israels. Galiläa ist gekennzeichnet durch wunderschöne Natur und fruchtbares Land. In Untergaliläa, etwa 120 Kilometer von Jerusalem entfernt liegt Nazareth. Diese Provinz liegt sehr günstig nur einige Kilometer entfernt von der Via Maris, der wichtigsten Handelsstraße der antiken Welt. Zudem ist Nazareth Vorort der Hauptstadt Galiläas Sepphoris. In Nazareth wächst Jesus als normaler Junge auf. Sein Vater bildet ihn im Bauhandwerk aus und bringt ihm Tora Kenntnisse bei. Man geht davon aus, dass Josef dann früh gestorben ist und Jesus die Verantwortung fürs seine Familie übernahm. In Sepphoris gab es gute Jobs, da Herodes Antipas die Stadt damals neu aufbauen ließ. Als Jesus dann etwa 18 Jahre alt war, starb der römische Kaiser Augustus. Tiberius wurde sein Nachfolger und sofort versuchten die Mächtigen und Ambitionierten sich beim neuen Kaiser beliebt zu machen. Auch Herodes Antipas gründete am See Genezareth in Galiläa eine neue Stadt mit dem Namen Tiberias. Dadurch wurde Nazareth endgültig zum Provinzkaff und war nicht mehr Vorort der Hauptstadt.

Was uns in der Bibel fehlt, sind Berichte über die Kindheit, die Jesus in Nazareth verlebt hat. Wir lesen auch nichts von kindlichen Wundern. Erst im 2. und 3. Jahrhundert entstehen Schriften mit solchen Kindheitswundern. Zum Beispiel formt Jesus aus Lehm Spatzen und erweckt sie zum Leben. Oder er lässt einen Jungen verdorren, der ihn beim Spielen störte. Die Evangelisten haben solche Berichte nicht aufgenommen, denn es gab solche Begebenheiten wohl einfach nicht. Es würde auch nicht zum Gesamteindruck passen, da Jesus seine Identität lange geheim halten wollte.

Es gibt nur eine Begebenheit zwischen der Kindheit Jesu und seinem öffentlichem Wirken, die wir in den Evangelien vorliegen haben. Wir finden Sie im 2. Kapitel des Lukasevangelium. Dieser Bericht unterscheidet sich deutlich von den Kindheitslegenden, die im 2. und 3. Jahrhundert entstanden sind. Es geht Lukas nicht darum, irgendeine fromme Neugier zu stillen, sondern sein Ansatz ist es, den Kern des Evangeliums deutlich zu machen und scheinbar ist dieser Kindheitsbericht dafür von Bedeutung. Wir lesen in dieser Textpassage von einer Jerusalemreise von Jesus und seinen Eltern. Man kann davon ausgehen, dass unter den Pilgern damals der neue und ehrgeizige Hohepriester Hannas ein großes Thema gewesen ist. Diesem Hannas ging seine Familie über alles und so hat er das Kunststück vollbracht, fünf seiner Söhne und seinem Schwiegersohn Kaiphas den Weg ins Hohepriesteramt nach ihm zu ebnen. Die sieben Hohepriester der Hannas Sippe sollten die hartnäckigsten Gegner Jesu und seiner Jünger werden. Alle Verfolgungen der Christen in Jerusalem gehen auf Mitglied im Hannas Clan zurück. Es ist aufgrund der Gegebenheiten nicht unwahrscheinlich, dass Jesus mit 12 Jahren auf der Pilgerreise seinen künftigen Gegner etwa 22 Jahre vor der Kreuzigung zu Gesicht bekamt.

41 Und seine Eltern reisten jährlich am Passahfest nach Jerusalem. 42 Und als er zwölf Jahre alt war, gingen sie nach dem Brauch des Festes hinauf nach Jerusalem. 43 Und als sie die Tage vollendet hatten und wieder heimkehrten, blieb der Knabe Jesus in Jerusalem; und Joseph und seine Mutter wussten es nicht. 44 Da sie aber meinten, er wäre bei den Reisegefährten, zogen sie eine Tagereise weit und suchten ihn unter den Verwandten und unter den Bekannten. 45 Und weil sie ihn nicht fanden, kehrten sie wieder nach Jerusalem zurück und suchten ihn. 46 Und es geschah, nach drei Tagen fanden sie ihn im Tempel sitzend mitten unter den Lehrern, wie er ihnen zuhörte und sie befragte. 47 Es erstaunten aber alle, die ihn hörten, über sein Verständnis und seine Antworten. 48 Und als sie ihn sahen, waren sie bestürzt; und seine Mutter sprach zu ihm: Kind, warum hast du uns das getan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht! 49 Und er sprach zu ihnen: Weshalb habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meines Vaters ist? 50 Und sie verstanden das Wort nicht, das er zu ihnen sagte. 51 Und er ging mit ihnen hinab und kam nach Nazareth und ordnete sich ihnen unter. Und seine Mutter behielt alle diese Worte in ihrem Herzen. 52 Und Jesus nahm zu an Weisheit und Alter und Gnade bei Gott und den Menschen.

Lukas 2,41-52

Dieser Text liefert uns einige aufschlussreiche Informationen über Jesus und seine Botschaft. Vers 41 beginnt damit uns vor Augen zu führen, dass die Eltern von Jesus fromm und gesetzestreu waren. Schon bei der Geburt von Jesus legten sie hohen Wert darauf, das zu tun, was das mosaische Gesetz bei der Geburt eines Jungen vorsah. In Vers 42 wird erwähnt, dass Jesus 12 Jahre alt gewesen ist. Auch diese Tatsache scheint von Bedeutung zu sein, denn es war das letzte Vorbereitungsjahr eines Jungen, bevor er voll in das religiöse Leben der Synagoge eintrat. Am Ende des 12. Lebensjahres sollte er formell das Joch des Gesetzes auf sich nehmen und den Status Bar-Mizwa (Sohn des Gebots) erreichen. Vielleicht wollte Jesus an diesem entscheidenden Wendepunkt auf subtile Weise zeigen, dass er mehr sein würde als ein Bar-Mizwa. Er würde das Gesetz nach Gottes Gedanken erfüllen und er würde den Fluch des Gesetzes für uns auf sich nehmen.

Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen sei, um das Gesetz oder die Propheten aufzulösen. Ich bin nicht gekommen, um aufzulösen, sondern um zu erfüllen!

Matthäus 5,17

Von diesem Fluch des Gesetzes hat uns Christus erlöst. Als er am Kreuz starb, hat er diesen Fluch auf sich genommen. In der Heiligen Schrift lesen wir ja: »Wer so aufgehängt wird, ist von Gott verflucht.«

Galater 3,13

In Vers 43 scheint es dann so, als ob Jesus überhaupt keine Rücksicht auf die Zeit und Gefühle seiner Eltern nehmen würde. Eigentlich verdeutlicht der Text aber vielmehr noch, dass Maria und Josef ein Grundvertrauen in ihren Sohn hatten. Denn wäre er ein unverantwortliches Kind gewesen, hätten sie vermutlich schon früher nachgeforscht, wo er sich aufhält. Sie vertrauten offensichtlich seinem guten Urteilsvermögen. Das Motiv von Jesu war also wohl nicht Nachlässigkeit oder Respektlosigkeit. Er ließ seine Eltern deshalb gehen, weil er nachdrücklich etwas deutlich machen wollte.

Mit den drei Tagen in den Versen 44-46 sind wahrscheinlich drei Tage seit dem Verlassen Jerusalems gemeint. Also insgesamt ein Tag Abreise, ein Tag Rückreise und ein Tag auf der Suche. Die Verse 46-47 sind sehr lehrreich für ein Verständnis der Göttlichkeit Jesu. Diese Verse erklären in gewisser Weise den Inhalt von Philipper 2,6-7.

Obwohl er in jeder Hinsicht Gott gleich war, hielt er nicht selbstsüchtig daran fest, wie Gott zu sein. Nein, er verzichtete darauf und wurde einem Sklaven gleich: Er wurde wie jeder andere Mensch geboren und war in allem ein Mensch wie wir.

Philipper 2,6-7

Jesus entledigte sich seiner Allwissenheit, so lesen wir es auch in Matthäus 24,36.  Es ist also nicht so, dass Jesus einfach mit den Schriftgelehrten spielt und sich heimlich über ihre Unwissenheit belustigt. Jesus hat einen scharfen Verstand und sicherlich tiefe Einsichten. Aber seine Fragen zielen tatsächlich darauf ab, mehr Einsicht zu gewinnen. Sie sind ehrlich gemeint. Das führt natürlich zu der Frage: Wie kann Christus Gott sein, ohne allwissend zu sein? Es scheint so, als ob er in der Lage war, die Ausübung seiner göttlichen Kräfte einzuschränken. Auf diese Weise hatte er die Persönlichkeit Gottes, aber die Fähigkeit, alles zu wissen, hielt er irgendwie zurück. Sie gehörten ihm zwar potenziell, und so war er Gott. Aber er verzichtete hier auf den Gebrauch, und so war er Mensch. Er war ganzer Gott und ganzer Mensch. Deshalb ist das Kind im Tempel auch nicht so anders, als dass es uns nicht als Beispiel dienen könnte. Wir können von dem 12-jährigen Jesus eine wichtige Lektion lernen.

Jesus suchte sich Lehrer, er hörte zu, er stellte Fragen und er gab Antworten. Wenn der Sohn Gottes so vorging, um ein tieferes Verständnis der Heiligen Schrift zu bekommen, wie viel mehr ist es unsere Aufgabe? Wie viel Eifer haben wir darin? Welche Priorität räumen wir dem Wort Gottes ein? Wie sicher sind wir in unserer Theologie? Sind wir uns über der Gefahr bewusst, der wir uns aussetzen, wenn wir die Fähigkeit verlieren, Dinge an dem Wort Gottes zu prüfen? Es ist unsere Aufgabe, eine naive Perspektive hinter sich zu lassen und nachzuforschen, zu fragen, zu hören und antworten zu geben.

Eigentlich müsstet ihr es in eurem Glauben schon zum Meister gebracht haben und andere unterweisen. Tatsächlich aber seid ihr erst wie Lehrlinge, denen man die allerersten Grundlagen von Gottes Botschaft beibringen muss. Wie Säuglingen kann man euch nur Milch geben, weil ihr feste Nahrung noch nicht vertragt. Wer noch Milch braucht, ist ein kleines Kind und versteht nicht, was die Erwachsenen reden. Ein Erwachsener kann feste Nahrung zu sich nehmen. Nur wer seine Urteilsfähigkeit geschult hat, der kann auch zwischen Gut und Böse unterscheiden.

Hebräer 5,12-14

In den Versen 48-52 lesen wir davon, dass Maria und Josef ihren Sohn nicht verstanden. Sie suchten ihn, bis sie ihn im Tempel antrafen. Wo haben sie vorher gesucht? Auf dem Spielplatz, im Schwimmbad, in der Spielothek? Jesus will seinen Eltern sagen: Ihr hättet nicht suchen müssen, denn ihr müsstet doch wissen, dass mir eine innere Notwendigkeit auferlegt ist, im Haus meines Vaters zu sein. Die Hauptaussage der Passage liegt wohl im Kontrast zwischen „deinem Vater“ und „meinem Vater“. Maria sagt: „Dein Vater und ich haben dich gesucht“. Jesus antwortet: „Ihr hättet wissen müssen, dass ich im Haus meines Vaters sein würde“. Jesus hat scheinbar diese entscheidende Phase seines Lebens gewählt, um seinen Eltern auf unvergessliche Weise mitzuteilen, dass er genau weiß, wer sein wirklicher Vater ist und was das für seine Mission bedeutet. Es würde genau das bedeuten, was Simeon in Lukas 2,34-35 nach der Geburt Jesus gegenüber Maria ankündigt hat.

Simeon segnete sie und sagte dann zu Maria: »Gott hat dieses Kind dazu bestimmt, die Israeliten vor die Entscheidung zu stellen: ob sie zu Fall kommen oder gerettet werden. Durch ihn setzt Gott ein Zeichen, gegen das sich viele auflehnen werden. So zeigt er, was in ihrem Innern vor sich geht. Der Schmerz darüber wird dir wie ein Schwert durchs Herz dringen.«

Lukas 2,34-35

Es würde die Zeit kommen, in der Jesus in Jerusalem getötet wird und dieses Ereignis wird für Maria ein großer Schmerz sein. Die Suche von Maria und Josef in Jerusalem nach ihrem 12-jährigen Sohn ist ein Vorgeschmack auf diese Erfahrung. Jesus kennt ganz deutlich seine einzigartige Gottessohnschaft und versteht, dass seine Sendung eine so große Hingabe an Gottes Ziele verlangt, dass sie Vorrang vor den engsten Familienbanden hat. Er musste seiner Berufung folgen, auch wenn sie Schmerz und Missverständnisse mit sich bringt. Lukas bereitet damit den Weg für das Erwachsenenamt Jesu. Daher nimmt er diese Passage in seinen Bericht auf.


Piper, John. „The Son of God at 12 Years Old.“

Spieker, Markus. „Jesus. eine Weltgeschichte.“