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Theologie

Sozialgesetzgebung

Der Zusammenhalt des Volkes und damit auch die Identität des Volkes ist abhängig von der wirtschaftlichen Gerechtigkeit. Daher soll die Trennung zwischen Armen und Reichen möglichst verhindert beziehungsweise abgeschwächt werden.

Soziale Gerechtigkeit steht in der Wertordnung in Deutschland weit oben. Zur sozialen Gerechtigkeit zählen für uns beispielsweise Dinge wie gute Arbeit und faire Entlohnung oder auch gleiche Bildungschancen für alle. Menschen in Not sollen nicht allein gelassen werden. Dabei ist soziale Gerechtigkeit und Sozialgesetzgebung keine Erfindung des modernen Sozialstaates. Schon im Alten Testament stoßen wir auf eine umfangreiche Sozialgesetzgebung, die uns den Wunsch Gottes für sein Volk aufzeigt.

Zum richtigen Verständnis der alttestamentlichen Sozialgesetzgebung der Tora ist ein Verständnis der vorstaatlichen Zeit Israels von großer Bedeutung. Bei der Entstehung der Gesetzgebung gab es noch kein Königtum als Staatsform, sondern einen Verband von verschiedenen Stämmen, die in Sippen und Großfamilien zwischen den kanaanäischen Stadtstaaten gelebt haben. Die eigene Versorgung dieser Sippen und Familien wurde gesichert durch die Landwirtschaft, welche nicht auf den Handel ausgelegt war, sondern eine Subsistenzwirtschaft gewesen ist, die dem eigenen Lebensunterhalt diente. Überschüsse wurden also weniger mit der Zielsetzung der möglichen Handelsbeziehungen erwirtschaftet, sondern im Hinblick auf die Speicherung für Jahre, in denen weniger Ernteertrag zu erzielen sein würde. Je besser es um die Versorgungslage einer Familie bestellt war, desto eher konnte die Familie wachsen und sich vergrößern. Die Größe der Familie war damit wesentliches Kennzeichen für die Stärke und die Zukunftsfähigkeit. Daher lässt sich auch erklären, dass die Gesetzgebung in vielen Bereichen stark auf die Bewahrung der Familie ausgerichtet gewesen ist.

Die Sozialgesetzgebung hat vor allem den Schutz der Armen zum Ziel, dennoch lässt sich keine Idealisierung der Armut erkennen, wie es gerade in der frühchristlichen Zeit durch Mönche und die asketische Lebensweise kennzeichnend gewesen ist. Die Armut soll als Schicksal der Betroffenen überwunden werden und durch die Einhaltung der Gebote Gottes wird dem Volk Segen verheißen, welcher sich auch darin zeigt, dass keine Armut mehr im Volk präsent wäre (Dtn 15,4-6). Die Sozialgesetzgebung der Tora ist die konkrete Umsetzung des Schutzes für die Armen im Volk. Einige Beispiele für diese Gesetzgebung sollen in diesem Blogbeitrag erläutert werden.

Mehrfach in der Tora wird darauf hingewiesen, dass die Israeliten bei der Ernte auf die Nachlese verzichten sollen, sodass die Armen und Fremden im Land die Möglichkeit haben, für ihren eigenen Bedarf einzusammeln und ihre Versorgung dadurch sicherzustellen.

Wenn ihr aber die Ernte eures Landes einbringt, so sollst du dein Feld nicht bis an den Rand abernten und keine Nachlese deiner Ernte halten, sondern es dem Armen und dem Fremdling überlassen. Ich, der HERR, bin euer Gott.

Levitikus 23,22; SCH2000

Gleiche Vorgehensweise gilt auch für das Brachjahr, welches vorsah, dass die Israeliten alle sieben Jahre im sogenannten Sabbatjahr ihre Felder brach liegen lassen. Die Erträge, die dann dennoch auf den Feldern wachsen würden, sollten den Armen zur Verfügung stehen (Ex 23,11). Die Aufforderung aus Levitikus 23,22 ist eine Wiederholung von Levitikus 19,9. Auch im Buch Deuteronomium 24,19-22 findet sich erneut dieser Hinweis. Es zeigt sich, dass diese diakonischen Bestimmungen von besonderer Wichtigkeit gewesen sind. Gott will die Fürsorge der Armen und Fremden im Land sicherstellen und die Gesetzgebung zeigt, dass diese Fürsorge ein wesentliches Merkmal des Glaubens an Gott gewesen ist.

Im Buch Deuteronomium wird zudem die Armensteuer thematisiert, welche alle drei Jahre in Form des Zehnten den Bedürftigen zur Verfügung gestellt werden sollte. Diese Gesetzgebung diente zusammen mit den anderen Gesetzen dazu, die Verarmung und das Auseinanderdriften von Armen und Reichen zu verhindern beziehungsweise zu verlangsamen.

Nach Verlauf von drei Jahren sollst du den ganzen Zehnten deines Ertrages von jenem Jahr aussondern und es in deinen Toren lassen. Da soll dann der Levit kommen, weil er weder Teil noch Erbe mit dir hat, und der Fremdling und die Waise und die Witwe, die in deinen Toren sind, und sie sollen essen und sich sättigen, damit dich der HERR, dein Gott, segne in allen Werken deiner Hände, die du tust.

Deuteronomium 14,28-29; SCH2000

Die Abgabe des Zehnten, welche sonst dem Zentralheiligtum zugedacht gewesen ist, sollte nach der Gesetzgebung alle drei Jahre lokal an benachteiligte Gruppen verteilt werden, wobei auch die Leviten miteinbezogen werden. Insgesamt zeigt sich, dass die kultische Komponente der Versorgung des Heiligtums zusammenkommt mit der sozialen Komponente, die sich in der Versorgung der Bedürftigen zeigt.

Auch die sehr konkreten Gesetze in Bezug auf das wirtschaftliche Leben dienen dazu, dass die Einkommens- und Wohlstandsschere nicht zu weit auseinandergeht. So kennt die Sozialgesetzgebung das Zinsverbot (Lev 25,35-38). Dieses Zinsverbot gilt für Mit-Israeliten, nicht jedoch für Menschen außerhalb des Volkes. Dort ist eine Zinsvereinbarung durchaus möglich gewesen. Zudem zeigt sich hier, dass die Gottesfurcht in einen Zusammenhang mit diesem Gebot gestellt wird. Es wird erkennbar, dass die Furcht vor Gott die wirtschaftliche Ausbeutung und den Wucher verhindern kann. Weitere Gebote sind die Beschränkungen bei der Pfandnahme (Ex 22,25-26; Dtn 24,6), welche den Bedürftigen wesentliche Ge-genstände für das Leben und den Broterwerb sichern sollten sowie das Gebot zu richtigen Maßen und Gewichten (Dtn 25,13-16), welches dazu diente, einen fairen Handel sicherzustellen.

Zur Sozialgesetzgebung gehören auch die Mechanismen des Sabbatjahres und des Jobeljahres. Das Jobeljahr wird im Buch Levitikus beschrieben.

Und ihr sollt das fünfzigste Jahr heiligen und sollt im Land eine Freilassung ausrufen für alle, die darin wohnen. Es ist das Halljahr, in dem jeder bei euch wieder zu seinem Eigentum kommen und zu seiner Familie zurückkehren soll.

Levitikus 25,10; SCH2000

Grundlage dieser Gesetzgebung ist, dass Ackerland nicht für den Grundstückshandel gedacht ist, sondern es immer nur um eine Nutzungsüberlassung geht. Durch Missernten konnten landwirtschaftlich tätige Familien schnell in eine Situation geraten, in der sie dazu gezwungen waren, das Land zu verkaufen. Dadurch wird die Einkommensgrundlage für kommende Jahre jedoch zusätzlich geschmälert, sodass eine dauerhafte Verarmung die Folge wäre. Die Gesetzgebung sah vor, dass jeder-zeit die Möglichkeit für einen Rückkauf besteht, sodass der Verkäufer seinen ursprünglichen Grundbesitz zurückerlangen kann, wenn er unverhofft wirtschaftlich wieder bessergestellt ist. Doch auch wenn ein solcher Rückkauf nicht möglich ist, soll spätestens alle 50 Jahre im Jobeljahr der Besitz wieder auf die ursprünglichen Eigentümer übergehen.

Der Erlasscharakter des Sabbatjahres wird im Buch Deuteronomium deutlich:

Am Ende von sieben Jahren sollst du einen Schuldenerlass anordnen. Dies ist aber die Ordnung des Erlasses: Jeder Schuldherr soll das Darlehen seiner Hand erlassen, das er seinem Nächsten geliehen hat; er soll seinen Nächsten oder seinen Bruder nicht bedrängen; denn man hat einen Schuldenerlass des HERRN ausgerufen.

Deuteronomium 15,1-2; SCH2000

Durch diesen Erlass sollte sichergestellt sein, dass Menschen nicht dauerhaft verschuldet sind, sondern die Ungleichheit regelmäßig zumindest bis zu einem gewissen Maß ausgeglichen wird. Es zeigt auf, dass Gott das Miteinander im Volk sehr wichtig gewesen ist. Zusätzlich war auch die Entlassung von Sklaven alle sieben Jahre vorgesehen (Dtn 15,12). Dabei sollten die Sklaven aber nicht nur in die Freiheit entlassen, sondern gleichzeitig auch reich beschenkt werden (Dtn 15,13-14). Das Volk Israel, welches selbst die Sklaverei kennengelernt hatte, sollte die durch Gott empfangene Freiheit auch in der eigenen Wirtschaftsordnung umsetzen.

Die dargestellten Aspekte der Sozialgesetzgebung zeigen auf, dass die Gerechtigkeit ein wesentlicher Begriff und Gedanke des Alten Testamentes auch in Bezug auf die Wirtschaft gewesen ist. Diese Gerechtigkeit soll durch ganz konkrete Gesetze umgesetzt werden.

„Gerechtigkeit (zedaqa) ist daher weder abstrakte Norm noch unverbindliches Leitbild, sondern erhebt direkten Anspruch auf die Gesellschaftsgestaltung: Soziale Differenzen hinsichtlich Eigentum und Macht dürfen nicht so groß werden, dass sie  den inneren Zusammenhang des Volkes, dessen Mitglieder ja zugleich Genossen des Bundes mit Jahwe sind, gefährden oder gar zerstören.“

Nutzinger, Hans G. Die Wirtschaft in der Bibel.

Der Zusammenhalt des Volkes und damit auch die Identität des Volkes ist abhängig von der wirtschaftlichen Gerechtigkeit. Daher soll die Trennung zwischen Armen und Reichen möglichst verhindert beziehungsweise abgeschwächt werden. In der Sozialgesetzgebung wird immer wieder erkennbar, dass die Ungleichheit möglichst umfassend ausgeglichen werden soll. Wir kennen solche Mechanismen durch den progressiven Steuersatz, welcher eine erhöhte Steuerabgabe mit steigendem Einkommen vorsieht. Auch das Insolvenzrecht kennt eine Möglichkeit für verschuldete Menschen, nach einer gewissen Zeit schuldenfrei zu werden. Der gesamte Sozialstaat in Deutschland bietet eine Absicherung für in Not geratene Menschen. Dennoch sind wir als Christen immer wieder zur Reflexion darüber aufgerufen, wie wir Gerechtigkeit in unserem wirtschaftlichen Handeln umsetzen können und wie wir dazu beitragen, den Zusammenhalt innerhalb der Gesellschaft zu stärken.


Grünwaldt, Klaus. „Wirtschaft und Geld – biblische Perspektiven.“

Kessler, Rainer. „Armut / Arme (AT).“

Lohfink, Norbert. „Gottes Reich und die Wirtschaft in der Bibel.“

Maier, Gerhard. „Das dritte Buch Mose.“

Nutzinger, Hans G. „Die Wirtschaft in der Bibel.“

Schneider, Dieter. „Das fünfte Buch Mose.“

Tan, Kim. „Das Erlassjahr-Evangelium: ein Unternehmer entdeckt Gottes Gerechtigkeit.“