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Bibelauslegung Nachfolge

Unreine Lippen

Bei Jesaja im Thronsaal sehen wir ein Muster. Eine Gottesbegegnung (Jes 6,1-4) führt zu einer tiefen Sündenerkenntnis (Jes 6,5). Eine echte Gottesbegegnung führt aber auch immer zu einer Begegnung mit umgestaltender und verändernder Gnade (Jes 6,6-8). 

Im Todesjahr des Königs Usija, da sah ich den Herrn sitzen auf hohem und erhabenem Thron, und die Säume ⟨seines Gewandes⟩ füllten den Tempel. Serafim standen über ihm. Jeder von ihnen hatte sechs Flügel: Mit zweien bedeckte er sein Gesicht, mit zweien bedeckte er seine Füße, und mit zweien flog er. Und einer rief dem andern zu und sprach: Heilig, heilig, heilig ist der HERR der Heerscharen! Die ganze Erde ist erfüllt mit seiner Herrlichkeit! Da erbebten die Türpfosten in den Schwellen von der Stimme des Rufenden, und das Haus wurde mit Rauch erfüllt.

Jesaja 6,1-4

In diesen Versen beschreibt Jesaja eine Erfahrung, die er im Thronsaal Gottes macht. Alle Aspekte dieser Beschreibung scheinen die Herrlichkeit und Größe Gottes zu verdeutlichen. Gottes Saum erfüllt den Tempel. Könige trugen oftmals Gewänder mit Saum, in denen es schwierig war, sich zu bewegen oder zu arbeiten. Dieser Umstand bringt zum Ausdruck: Ich bin so bedeutend, dass andere für mich die Arbeit übernehmen. Ich regiere auf meine Thron. Der Saum Gottes füllte den Tempel. Er ist unwahrscheinlich lang, weil Gott außergewöhnlich bedeutend ist. 

Engel fliegen um den Thron Gottes und rufen „Heilig, heilig, heilig ist der Herr der Heerscharen“. Im Hebräischen wird Intensität durch Wiederholung ausgedrückt. Gott ist unglaublich heilig. Sie bedecken ihr Gesicht. Das erinnert an 2 Mo 33,20 als Gott zu Mose sagt, dass er nicht überleben wird, wenn er das Angesicht Gottes sieht. 

Das Rufen der Engel hat solch durchdringende Kraft, dass sogar die Türpfosten erbeben. Trotz ihrer offensichtlichen Macht und Kraft scheint ihr einziges Anliegen die Anbetung zu sein. Menschlich gesprochen und im Anbetracht des Fachkräftemangels hätte ich diese Engel anders eingesetzt. Aber Gott kann es sich erlauben, diese mächtigen Wesen ausschließlich für den Lobpreis abzustellen.

Alles in diesen ersten vier Versen macht deutlich: Die Herrlichkeit Gottes ist weit über dem, was du dir vorstellen kannst.

Jesaja erlebt diesen Augenblick. Wie ist seine Reaktion? Jesaja jauchzt nicht vor Faszination, er holt nicht sein Smartphone hervor, um den Moment mit der Welt zu teilen, er nutzt nicht die Gegenwart im Himmel, um nach seinem lang vermissten Hund zu pfeifen. Der Augenblick durchbohrt ihn wie ein Schwertstich.

Da sprach ich: Wehe mir, denn ich bin verloren. Denn ein Mann mit unreinen Lippen bin ich, und mitten in einem Volk mit unreinen Lippen wohne ich. Denn meine Augen haben den König, den HERRN der Heerscharen, gesehen.

Jesaja 6,5

Er steht völlig entblößt vor dem Heiligen, der ihn vollkommen kennt: Jede Sünde, jedes verdorbene Motiv, jede geheime Tat. Jesaja bekennt sich sofort und ohne jede Einschränkung schuldig. Das Maß der Erkenntnis Gottes führt offensichtlich zu einem entsprechenden Maß an Erschütterung über sich selbst. Das ist eine Konstante in der Bibel bei ähnlichen Erfahrungen (Hiob 42,5-6, Daniel 10,15-17, Lukas 5,8, Offenbarung 1,17).

Im Angesicht des Allmächtigen scheint ihn ausgerechnet eine Sache besonders zu erschüttern: Der Gebrauch seiner Zunge. Jesaja fällt auf sein Gesicht und bekennt das Böse, nicht nur seiner Zunge, sondern der Zungen, unter denen er auf der Erde lebt. Er beklagte sich nicht darüber, dass er unter einem Volk der Unzucht, des Mordes oder des Götzendienstes lebte. Was er sagte und was die Menschen sagten entsetzte ihn. 

Wer die Herrlichkeit Gottes erkennt und erlebt, den wird vor allem eines erschüttern: Unsere Worte, unreine Lippen. Hastige Worte, fluchende Worte, gewalttätige Worte, lüsterne Worte, falsche Worte, lügende Worte, tratschende Worte, schmeichelnde Worte, herabsetzende Worte. Wie viele Ratten sind aus diesem Abwasserkanal hervorgegangen?

Paulus zitiert die Psalmen (Ps 14) um die Menschheit anzuklagen und schlägt in die gleiche Kerbe.

Alle sind abgewichen, sie sind allesamt untauglich geworden; da ist keiner, der Gutes tut, da ist auch nicht einer.« »Ihr Schlund ist ein offenes Grab; mit ihren Zungen handelten sie trügerisch.« »Viperngift ist unter ihren Lippen.« »Ihr Mund ist voll Fluchens und Bitterkeit.«

Römer 3,12-14

Er zitiert hier das Alte Testament mögen wir denken. Jesaja und die Psalmisten kannten Christus nicht wie wir. Gott hat seine barmherzige Seite noch nicht vollständig offenbart. Doch dann lesen wir die Worte von Jesus.

Ich sage euch aber, dass die Menschen von jedem unnützen Wort, das sie reden werden, Rechenschaft geben müssen am Tag des Gerichts; denn aus deinen Worten wirst du gerechtfertigt werden, und aus deinen Worten wirst du verdammt werden.

Matthäus 12,36-37

Selbst unnütze Worte werden gemessen und gewogen. Wir werden über jedes einzelne Rechenschaft ablegen. Das sind Abermillionen pro Mund, aufgezeichnet, erinnert, gefordert am Richterstuhl Gottes.

Aber was genau sind unnütze Worte? Das griechische Wort für „unnütz“ ist an dieser Stelle argos. Schauen wir an anderen Stellen im Neuen Testament nach diesem Wort, bekommen wir einen Eindruck, was genau mit unnütz gemeint ist. 

Mt 20,3-7: Menschen, die herumstehen, obwohl sie arbeiten sollten

1 Tim 5,13: Menschen, die Zeit verschwenden und Ärger verursachen

Tit 1,12; Jak 2,20; 2 Petr 1,8: Etwas, das nicht so funktioniert, wie es gedacht ist

Zusammengefasst: Unnütze Worte sind unproduktiv, verursachen Ärger und entsprechen nicht ihrem eigentlichen Zweck.

Vielleicht ist auch deine erste Reaktion: Das scheint mir ein wenig übertrieben. Wir sind schließlich auch nur Menschen. Aber wie Jesaja aus erster Hand erfuhr, wird diese Ausrede nicht funktionieren. Welche Gedanken er auch immer hatte, bevor er diesen Gott sah, sie änderten sich vor seinem Thron. Er sprach das Todesurteil über sich selbst aus. Wenn wir versucht sind, diesen Maßstab für zu hart zu halten, hilft uns Johannes Calvin.

Viele halten das für zu streng; aber wenn wir bedenken, wozu unsere Zungen gemacht sind, werden wir zugeben, dass diejenigen Menschen mit Recht schuldig sind, die sie gedankenlos zu unbedeutenden Torheiten einsetzen und sie zu einem solchen Zweck prostituieren.

Johannes Calvin

Unsere Zungen sind für herrliche Zwecke gemacht. Die Versuchung, niedrige Erwartungen an das Urteil über unsere Worte zu stellen entsteht, weil wir eine zu niedrige Meinung von Worten haben. Eine Meinung, die Jesus offenbar nicht teilt. Er erwartet, dass Worte nützlich sind. Gotteslästerung, Verleumdung und Lüge zu vermeiden, ist ein zu geringes Ziel. Worte sollten es wert sein, gesprochen zu werden. Sie sollen Gutes bewirken, Frucht bringen, auf den Nutzen anderer abzielen und unermüdlich für die Ehre Gottes eintreten.

Jesaja fühlte sich erdrückt von der Last einer Welt voller böser und wertloser Worte. Als er Gott sah und die mächtigen Stimmen hörte, die allein dem Lobpreis dienten, entlarvte Jesaja sein eigenes Leben voller unreiner Worte. Er hatte eine tiefe Sündenerkenntnis. Doch damit war die Geschichte noch nicht zu Ende. Er hielt sich des Todes für würdig, aber Gott hatte weit mehr Gnade zu geben. Ein Engel brachte glühende Kohle vom Altar und berührte damit die Lippen von Jesaja.

Da flog einer der Serafim zu mir; und in seiner Hand war eine glühende Kohle, die er mit einer Zange vom Altar genommen hatte. Und er berührte ⟨damit⟩ meinen Mund und sprach: Siehe, dies hat deine Lippen berührt; so ist deine Schuld gewichen und deine Sünde gesühnt.

Jesaja 6,6-7

Es findet eine Reinigung statt, die Schuld ist gewichen, Sünde gesühnt. Als der Herr dann fragt, wen der Himmel mit einem Auftrag zu den Menschen schicken soll, verflucht Jesaja nicht mehr sich selbst wegen seines Mundes, sondern meldet sich, um als Botschafter zu sprechen.

Und ich hörte die Stimme des Herrn, der sprach: Wen soll ich senden, und wer wird für uns gehen? Da sprach ich: Hier bin ich, sende mich!

Jesaja 6,8

Vergebung begegnete ihm, wie sie uns begegnet in Jesus. Eine Gnade, die den Mund der törichtesten Schwätzer umfunktioniert und beauftragt. Was vorher der Finsternis überlassen war, kann jetzt dazu benutzt werden, Gott zu loben, Wahrheit zu sprechen und zu segnen. 

Bei Jesaja im Thronsaal sehen wir ein Muster. Eine Gottesbegegnung (Jes 6,1-4) führt zu einer tiefen Sündenerkenntnis (Jes 6,5). Eine echte Gottesbegegnung führt aber auch immer zu einer Begegnung mit umgestaltender und verändernder Gnade (Jes 6,6-8). 

Beides muss vorhanden sein, in einer echten Gottesbegegnung. Beides bedingt einander: Sünde lässt den Bedarf für die Gnade Gottes erkennen und die Gnade hilft mir, mit meiner Unzulänglichkeit umzugehen. Das ist umgestaltendes und beauftragendes Evangelium. Setzen wir uns nur mit der Gnadenerkenntnis auseinander, besteht das Risiko des Relativismus. Setzen wir uns nur mit Sündenerkenntnis auseinander, besteht das Risiko der Gesetzlichkeit. Wer seine Sünde erkennt und bekennt und sich auf die Gnade Gottes stützt, der erlebt die Kraft des Evangeliums.