Seit einiger Zeit stelle ich mich ein paar Mal in der Woche einer kleinen selbstauferlegten Challenge. Ich bitte meine Frau, irgendeine Bibelstelle aufzuschlagen und anschließend erarbeite ich dazu innerhalb von maximal einer Stunde eine kleine Andacht, die ich dann am Abend meiner Frau präsentiere. Es ist eine schöne Herausforderung, weil ich mich so dazu zwinge, mich nicht nur mit den Texten der Bibel auseinanderzusetzen, zu denen ich mich sowieso hingezogen fühle. Vor ein paar Tagen traf es mich dann aber besonders hart, als meine Frau 1. Samuel 15 aufschlug:
Samuel aber sprach zu Saul: Der HERR hat mich gesandt, um dich zum König über Israel zu salben; so höre nun auf die Stimme der Worte des HERRN! So spricht der HERR der Heerscharen: Ich will strafen, was Amalek an Israel tat, indem er sich ihm in den Weg stellte, als es aus Ägypten heraufzog. So ziehe nun hin und schlage Amalek, und vollstrecke den Bann an allem, was er hat, und schone ihn nicht; sondern töte Männer und Frauen, Kinder und Säuglinge, Rinder und Schafe, Kamele und Esel! Da bot Saul das Volk auf und musterte sie bei Telaim, etwa 200 000 Mann Fußvolk und 10 000 Mann aus Juda. Und Saul kam zu der Stadt Amaleks und legte einen Hinterhalt im Tal. Und Saul ließ den Kenitern sagen: Geht fort, weicht, zieht weg aus der Mitte der Amalekiter, damit ich euch nicht mit ihnen aufreibe; denn ihr habt Gnade an allen Kindern Israels erwiesen, als sie aus Ägypten heraufzogen! So zogen die Keniter aus der Mitte von Amalek weg. Da schlug Saul Amalek, von Hewila an bis nach Schur, das östlich von Ägypten liegt, und er nahm Agag, den König von Amalek, lebendig gefangen; dagegen vollstreckte er den Bann an dem ganzen Volk mit der Schärfe des Schwertes. Aber Saul und das Volk verschonten Agag und die besten Schafe und Rinder und das Vieh vom zweiten Wurf und die Mastschafe und alles, was wertvoll war, und sie wollten den Bann an ihnen nicht vollstrecken; alles Vieh aber, das wertlos und schwächlich war, an dem vollstreckten sie den Bann.
1. Samuel 15, 1-10; SCH2000
Nachdem ich das Kapitel im Schnelldurchlauf überflogen hatte, war mein erster Reflex: „Kannst du bitte eine andere Stelle aufschlagen?“ Aber meine Frau weigerte sich glücklicherweise. Denn es ist wichtig, dass wir uns auch mit den unbequemen Textpassagen der Bibel auseinandersetzen. Aber wie gehen wir mit solchen offensichtlich blutrünstigen Texten um, in denen Gott scheinbar aus dem Nichts den Befehl gibt, einen ganzen Stamm in Kanaan auszulöschen? Männer, Frauen, Kinder, Säuglinge und alle Tiere sollten vernichtet werden. Auch die Recherche konnte meine Verwirrung über diesen Befehl nicht ganz wegnehmen. Aber es gibt zu berücksichtigende Hintergrundinformationen, die uns dabei helfen solche Texte aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Einige dieser Gedanken möchte ich hier zusammenfassen.
Die Vergangenheit der Amalekiter
Beim Exodus wurden die schwächeren Nachzügler der Israeliten auf heimtückische Art und Weise von den Amalekitern überfallen (5. Mose 25, 17-19). Auch später in der Richterzeit, als die Israeliten bereits in Kanaan sesshaft geworden waren, überfielen die Amalekiter immer wieder die Israeliten und vernichteten die Ernte und damit ihre Lebensgrundlage (Richter 6, 2-5). Man könnte also sagen, dass die Amalekiter von ihrem Vorgehen eher einer terroristischen Gruppe glichen, als einem rechtschaffenden Staat.
Geduld Gottes
Gott ist mit den Kanaanäern sehr geduldig gewesen. Sie hatten ausreichend Zeit, um von ihren bösartigen Wegen umzukehren und damit auch nicht dem Gericht Gottes zu verfallen. In 1. Mose 15, 16 lesen wir davon, dass Gott sein Gericht zum Beispiel gegenüber den Amoritern herauszögerte und ihnen damit auch ein gewisses Zeitfenster einräumt, in dem sie von ihren bisherigen Wegen umkehren können. Ähnlich war es auch bei den Amalekitern. Zwischen dem Exodus und dem Krieg zwischen Saul und den Amalekitern liegen mehr als 300 Jahre. Aber die Nachkommen kehrten nicht um und lebten anders als ihre Väter, sondern führten ebenfalls einen bösartigen Lebensstil, der vermutlich sogar schlimmer war als der ihrer Vorfahren. Denn immer wieder lesen wir im Alten Testament, dass Gott mit dem Gericht wartete, bis ein gewisses Höchstmaß an Schuld erreicht war. Bei den Amalekitern schien dieses Höchstmaß in der Zeit von Saul erreicht gewesen zu sein.
Kriegssprache
Es gibt Hinweise dazu, dass es sich bei der Sprache in 1. Samuel 15 teilweise um Kriegssprache handelt, die auch bei anderen nahöstlichen Kulturen im Altertum üblich gewesen ist und unter anderem durch Übertreibung gekennzeichnet war. In diesem Fall würde es nicht darum gehen, buchstäblich alles Lebendige unter den Amalekitern auszulöschen, sondern eher darum, eine unmoralische Gesellschaftsform vernichtend zu zerschlagen. Saul spricht zwar davon, dass er außer dem König und einigen Tieren alles Lebendige ausgelöscht hat, aber zu einem späteren Zeitpunkt im 1. Samuel tauchen die Amalekiter erneut als Gegner Israels auf (1. Samuel 27, 8). Es scheint also so, dass Saul nicht den gesamten Stamm der Amalekiter ausgelöscht hat.
Gericht Gottes bringt Ordnung
Gottes Gericht sorgt immer für Widerherstellung der Ordnung und des Rechts. Unter Recht (hebräisch „mischpat“) wir im Alten Testament eine heilvolle, lebensermöglichende und lebenserhaltende Ordnung verstanden. Das Richten Gottes sorgt dafür, dass dieser Zustand widerhergestellt und erhalten wird. Auch mit seinem eigenen Volk ging Gott sehr hart ins Gericht, wenn die heilvolle Ordnung verloren gegangen war (Hesekiel 5, 6-8). Gericht ist bis heute ein notwendiges Vorgehen, um in einer Gesellschaft Recht durchzusetzen.
Der Überblick Gottes
Letztlich ist aber vor Allem unser Vertrauen Gott gegenüber gefragt. Wir sind nicht in der Lage, die Gerichte Gottes bis ins letzte Detail zu durchdringen. So sagt es auch Paulus in Römer 11, 33:
O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege!
Römer 11, 33
Gott schweigt manchmal auf unsere Fragen. Der leidgeplagte Hiob bekommt trotz seiner vielen Fragen lange keine Antwort von Gott. Werner Gitt weist darauf hin, dass wir ganz zum Schluss des Buches Hiob dann doch noch vom Reden Gottes lesen. Aber er antwortet in diesem längeren Abschnitt nicht Hiobs Frage nach dem Leid. Stattdessen stellt er Hiob 77 Fragen, die alle einen Bezug zur Schöpfung haben. Die Botschaft ist womöglich, dass Gott grundsätzlich das Recht hat, mit seiner Schöpfung so umzugehen, wie er es für richtig hält. Wir Menschen stehen zu ihm wie der Ton zum Töpfer. Wir sind bei der Schöpfung nicht anwesend gewesen und haben daher nur einen sehr begrenzten Einblick in die Dinge dieser Welt.
Auch Jesus hat am Kreuz erlebt, wie seine Frage unbeantwortet blieb:
Und zu der neunten Stunde rief Jesus laut: Eli, Eli, lama asabtani? Das heißt übersetzt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Markus 15, 34
Wir lesen nicht von einer Antwort des Vaters. Jesus nahm in diesem Moment das Gericht über eine verdorbene Menschheit auf sich. Es war der zwingend notwendige Weg, um uns Menschen mit Gott zu versöhnen. Deswegen schwieg der Vater und ließ es geschehen.
Gott ist gnädig und geduldig. Er sendet seinen Sohn und macht uns das Gnadenangebot der Vergebung. Er ist geduldig, denn noch immer haben wir Zeit zur Umkehr. Aber Gott wartet nicht ewig. Irgendwann kommt der Zeitpunkt, an dem das Maß der Sünde voll ist und dann gibt es ein letztes Gericht. Und dieses Gericht ist wichtig, denn es wird für vollkommene Gerechtigkeit und Ordnung sorgen.
Auch wenn der Umgang mit solchen Bibelstellen insbesondere im Alten Testament eine Herausforderung bleiben wird, sind diese Passagen auch eine Chance für uns als Christen Gott auch dann zu vertrauen, wenn wir seine Entscheidungen nicht verstehen.