Als Luther 1517 seine 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg schlug, wollte er eine Reformation der römisch-katholischen Kirche. Er wollte damals keine neue Kirche ins Leben rufen. Durch die mangelnde Bereitschaft der römisch-katholischen Kirche zu tiefgehenden Reformen spitzte sich die Situation zu und führte zur Spaltung in verschiedene Konfessionen. Der Beginn der lutherischen Reformation fiel in die Zeit des Pontifikats von Papst Leo X. Er war ein Medici, hatte großes Interesse an Kunst und Kultur und ging nicht auf Luthers Reformbemühungen ein, sondern exkommunizierte ihn. Nach dem Tod von Leo X. im Jahre 1521 wurde Adriaan Floriszoon Boeyens Papst und gab sich den Namen Hadrian VI. Er ging gegen die Vetternwirtschaft vor, schränkte den Luxus der päpstlichen Hofhaltung ein und erkannte, dass die Kirche eine umfassende Reform braucht.
Auf dem Reichstag zu Nürnberg im Jahre 1523 ließ Hadrian VI. durch seinen Legaten ein Schuldbekenntnis vorlesen, in dem es unter Anderem heißt:
„Wir wissen wohl, dass auch bei diesem Heiligen Stuhl schon seit manchem Jahr viel Verabscheuungswürdiges vorgekommen, Missbräuche in geistlichen Sachen, Übertretungen der Gebote, ja, dass alles sich zum Argen verkehrt hat. So ist es nicht zu verwundern, dass die Krankheit sich vom Haupt auf die Glieder, von den Päpsten auf die Prälaten verpflanzt hat. Wir alle, Prälaten und Geistliche, sind vom Weg des Rechtes abgewichen, und es gab schon lange keinen einzigen, der Gutes tat. Deshalb müssen wir alle Gott die Ehre geben und uns vor ihm demütigen; ein jeder von uns soll betrachten, weshalb er gefallen, und sich lieber selbst richten, als dass er von Gott am Tage seines Zornes gerichtet werde. Deshalb sollst Du in unserem Namen versprechen, dass wir allen Fleiß anwenden wollen, damit zuerst der Römische Hof, von welchem vielleicht alle die Übel ihren Anfang genommen, gebessert werde; dann wird, wie von hier die Krankheit ausgegangen ist, auch von hier die Gesundung beginnen. Solches zu vollziehen, halten wir uns umso mehr verpflichtet, weil die ganze Welt eine solche Reform begehrt.“
Noch im gleichen Jahr verstarb Hadrian VI. nach kurzer Amtszeit. Seine ambitionierten Vorhaben scheiterten. Er wurde zunächst im Petersdom beigesetzt, später dann in der deutschen Nationalkirche Santa Maria dell’Anima. Seine bittere Grabinschrift, die auf ihn selbst zurückgeht, lautet: „Ach, wieviel hängt doch davon ab, in welche Zeit auch des besten Mannes Wirken fällt!“ Sein Nachfolger Clemens VII. war wieder ein Medici. Die Hoffnung auf Einheit war zerschlagen.
Irgendwie macht mich diese Grabinschrift betroffen. Sie ist so wahr und auch so ausweglos. Wir haben keinen Einfluss auf die Zeit, in die wir hineingeboren werden und in welche damit auch unser Wirken fällt. Wir haben auch keinen wirklichen Einfluss darauf, was vor und was nach uns passiert. Wenn man das bedenkt und sich dann die Menge an bereits verstrichener Zeit anschaut, dann kommt man sich schnell sehr klein und unbedeutend vor. Vielleicht ist das auch gar nicht schlecht, da uns diese Erkenntnis Selbstüberschätzung nehmen kann und uns zur Demut erzieht (vgl. 1. Mose 3, 19 & Psalm 8, 5).
Wir wissen aus dem Wort Gottes aber auch, dass wir als Menschen den Auftrag bekommen haben, zu gestalten und Potenziale zu entwickeln (vgl. 1. Mose 2, 15). Wir sollen aktiv sein und etwas in Bewegung bringen anstatt passiv und verzweifelt die Dinge laufen zu lassen. Im Rahmen der Kirche finden wir so einen Handlungsauftrag zum Beispiel in Epheser 4, wo es heißt:
Setzt alles daran, dass die Einheit, wie sie der Geist Gottes schenkt, bestehen bleibt. Sein Friede verbindet euch miteinander.
Epheser 4, 3; HfA
Aber was ist, wenn ich mich mein Leben lang für die Einheit einsetze und am Ende ist doch alles vergebens und kurz nach mir schlägt man sich die Köpfe ein? Egal, was wir in diesem Leben bewerkstelligen, mit ein bisschen Pech kommt nach uns einer, der in wenigen Tagen alles einreißt, was über Jahrzehnte unter Gebet mit Blut, Schweiß, Tränen, Zeit, Geld und Leidenschaft aufgebaut wurde.
In Nehemia 1 lesen wir davon, wie der Mundschenk Nehemia sich erkundigt, wie es in seiner Heimat Juda aussieht und wie es den Juden geht, die nicht mit in die Babylonische Gefangenschaft gehen mussten. Er hört, dass in seiner Heimat schlimme Zustände sind und die Mauern von Jerusalem niedergerissen sind. Tief betroffen betet Nehemia zu Gott. Er empfindet den Zustand seiner Heimat als persönliche Last und macht einen Dienst daraus. Kurz darauf macht er sich auf den Weg nach Jerusalem und kümmert sich unter Anfeindungen darum, dass die Mauer wiederhergestellt wird. Aber auch die von Nehemia gebauten Mauern wurden irgendwann wieder eingerissen. War dieser Moment dann nicht auch die Zerstörung seiner gesamten Lebensleistung? Nein, denn entscheidend war nicht die Mauer, sondern seine Treue gegenüber Gott und dem Auftrag, den er bekommen hatte. Das ist vor Gott entscheidend. Er hat den Teil der Geschichte, den Gott ihm zugeteilt hat zu einem herausragenden Werk gemacht.
So ist es auch mit unserem Leben. Die Ausrede: „Was bringt das schon?“ oder „Was kann ich schon bewegen?“ oder „Am Ende geht doch wieder alles den Bach runter!“ zählt vor Gott nicht. Was nach uns passiert, liegt in der Regel nicht in unserer Hand und sollte unser recht kurzes Leben nicht lähmen. Das, was sich unserem Einfluss entzieht sollte nicht zur Ausrede für Passivität in den Dingen sein, die Gott uns zum verantwortungsvollen und fleißigen Handeln anvertraut hat. Gott hat uns zunächst zur Treue beauftragt. Unser Leben und auch das, was vor und nach uns passiert, können wir zuversichtlich seiner Souveränität überlassen. Dann können wir fokussiert und mit weniger Ablenkung unseren Auftrag verfolgen. Wo sehen wir ähnlich wie Nehemia eine Not, die wir zu einem Dienst machen können? Packen wir es an und sind dabei fokussiert und konzentriert. Wir können still darauf vertrauen, dass Gott schon weiß, wie er die Geschichte schreibt, in der wir ein kleiner Teil sein dürfen.