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Bibelauslegung

Das Auge sieht sich nicht, als nur im Widerschein, durch andre Dinge

„Sag mir, kannst du dein Antlitz sehen?“ „Nein, denn das Auge sieht sich nicht als nur im Widerschein durch andre Dinge“. Wir sollten sehr genau überlegen, welche Gesichter unsere Identität bestimmen, denn das wird das Leben maßgeblich beeinflussen.

Sagt, Brutus, könnt Ihr Euer Antlitz sehn? Dieser Satz entstammt dem Werk „Julius Cäsar“ von William Shakespeare. Es handelt sich um ein Drama in 5 Akten über Machtspiele und Verrat, die letztlich zur Ermordung Cäsars führen. Das Drama spielt im Jahr 44 v. Chr. in Rom. Cäsar war gerade von einem erfolgreichen Feldzug aus Spanien zurückgekehrt. Einige der Senatoren in Rom fürchten, dass Cäsar schon bald zu mächtig wird und die Republik zerstören könnte. So planen sie seine Ermordung und versuchen andere Adlige für ihre Sache zu gewinnen

Im ersten Akt werden wesentliche Charaktere vorgestellt. Neben Cäsar lernt man auch Brutus kennen, einen engen Freund von Cäsar. Er scheint ein von Zweifeln geplagter Mann zu sein. Er schwankt zwischen der Loyalität zu seinem Freund Cäsar und zu seiner Heimat Rom. Eine weitere wichtige Person ist Cassius. Er ist ein Senator und einer der Hauptverschwörer. Er nutzt die Zweifel bei Brutus, um ihn für die Verschwörung zu gewinnen.

In der zweiten Szene im ersten Akt finden wir dann diesen Satz, gesprochen von Cassius: „Sagt, Brutus, könnt ihr euer Antlitz sehn? Cassius weiß, dass er für seinen Plan Verbündete braucht. Während Brutus mit sich kämpft, stellt Cassius ihm diese Frage: Kannst du dich selbst sehen? Mit anderen Worten: Kannst du dich richtig erkennen? Kannst du sehen, wie du wirklich bist? Brutus antwortet: „Nein, Cassius, denn das Auge sieht sich nicht als nur im Widerschein durch andre Dinge.“ Das Auge kann das eigene Gesicht nicht sehen, es braucht immer einen Spiegel. Cassius bietet sich an, dieser Spiegel zu sein, um Brutus zu zeigen, wer er eigentlich ist, um ihn so auf die Seite der Verschwörer zu ziehen. Schmeichelhaft spiegelt er einen majestätischen Brutus, einen königlichen Brutus, einen Brutus, der genauso groß, wenn nicht sogar größer ist als Cäsar.

Wer zeigt dir dein Gesicht? Shakespeare stellt hier eine geniale Frage. Kannst du dein Gesicht sehen? Wen siehst du an, um dich selbst zu erkennen? Wessen Meinung über dich prägt deine Identität? Wenn ich nicht aufpasse, laufe ich von Spiegel zu Spiegel, immer auf der Suche nach Gesichtern von anderen, um wieder einen Blick für mein eigenes Gesicht zu bekommen. Wir sind viel damit beschäftigt, sicherzustellen, dass Menschen uns gutheißen. Glaubt diese Gruppe, dass es Spaß macht, mit mir zusammen zu sein? Falls nicht, muss ich witziger sein. Respektiert mich diese Gruppe? Falls nicht, muss ich irgendwie versuchen meine eigene Leistung stärker in den Vordergrund zu stellen.

Das Leben wird sehr fremdbestimmt, wenn wir immer den Blick in andere Gesichter brauchen, um eine Idee davon zu bekommen, wer wir eigentlich selbst sind. Das Gesicht steht hier nicht für etwas Äußeres. Die Frage lautet: Hast du klares Bild von dir und darin auch eine Souveränität, oder suchst du immer wieder unsicher in den Gesichtern Spiegel, weil du nicht weißt, wer du bist und wer du sein sollst?

„Sag mir, kannst du dein Antlitz sehen?“ „Nein, denn das Auge sieht sich nicht als nur im Widerschein durch andre Dinge“. Wir sollten sehr genau überlegen, welche Gesichter unsere Identität bestimmen, denn das wird das Leben maßgeblich beeinflussen.

Wenn man über Jesus nachdenkt, denkt man schnell an Weihnachten und Ostern. Aber Jesus wurde nicht geboren und ist direkt danach gestorben. Er hat gelebt. Und wie er gelebt hat. Er muss ein wahnsinnig beeindruckender Mann gewesen sein. Ein Fest für sein Leben müsste es geben. Er wird einen Raum mehr verändert haben als jeder Mensch vor oder nach ihm. Mich beeindruckt vor allem ein Wesenszug, der gar nicht so leicht in Worte zu fassen ist. Vielleicht könnte man sagen: Es gab einen Menschen, der sich nicht von menschlichen Spiegeln diktieren ließ. Diese Eigenschaft fand sogar Anerkennung bei seinen Feinden.

Da gingen die Pharisäer und hielten Rat, wie sie ihn in der Rede fangen könnten. Und sie sandten ihre Jünger samt den Herodianern zu ihm, die sprachen: Meister, wir wissen, dass du wahrhaftig bist und den Weg Gottes in Wahrheit lehrst und auf niemand Rücksicht nimmst; denn du siehst die Person der Menschen nicht an.

Matthäus 22,15-16

Die Pharisäer kommen in der Art und Weise von Cassius. Ihr Ziel ist Manipulation. Sie wollen Jesus in die Enge treiben und einen Grund der Anklage konzipieren. Schon die Einleitung soll Jesus schmeicheln. Er soll möglichst das tun, was er bisher immer tat: Ohne Rücksicht auf die Konsequenzen Wahrheit sprechen. Denn sie wussten: Er sieht keine Gesichter an und entscheidet dann aufgrund dessen, ob er entsprechend seiner Überzeugung handelt. Jesus weicht nicht zurück vor Gesichtern. Er ist der Löwe von Juda.

Der Löwe, der Held unter den Tieren — er weicht vor nichts zurück, …

Sprüche 30,30

Jesu Wesen und Handlung sind nicht primär durch sein menschliches Gegenüber beeinflusst. Diese Dinge dominieren ihn nicht. Jesus ist vollkommen frei davon, er tritt mit Klarheit über sein Gesicht auf. Egal wer ihm gegenübersteht, er ist ein Mann der Wahrheit. Er sprach klar zu seinen Feinden (vgl. Mt 23,13). Er sprach klar zu den Sündern (vgl. Joh 4,16-18). Er sah Gesichter und lehrte dennoch entsprechend der Wahrheit und seinem Auftrag. Selbst vor den Gesichtern seiner Familie und Freunde wich er nicht zurück (vgl. Mk 8,33 & Lk 10,40-42). Er änderte seine Botschaft für niemanden, denn er erhielt seine Identität nicht von Menschen. Er war nicht gehemmt durch Menschenfurcht oder das Verlangen nach Bestätigung. Er brauchte den Beifall und die Unterstützung nicht. 

Anstatt uns umzuschauen, um unser Spiegelbild in den Gesichtern um uns herum zu sehen, möchte uns die Bibel einladen: Schau mehr denn je auf das schöne Gesicht Gottes im Gesicht seines einzigen Sohnes, Jesus Christus.

Wir alle aber, indem wir mit unverhülltem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn anschauen (katoptrizomenoi) wie in einem Spiegel, werden verwandelt (metamorphoumetha) in dasselbe Bild von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, nämlich vom Geist des Herrn.

2 Korinther 3,18

Dieser Vers schließt ein großes Geheimnis des christlichen Glaubens auf.

„Anschauen“ (katoptrizomenoi) kann auf zwei Bedeutungen zurückgeführt werden. Entweder kontemplatives und konzentriertes Anschauen oder aber reflektieren bzw. spiegeln. Es steht im Partizip Präsens und beschreibt einen andauernden, kontinuierlichen Vorgang.

„Werden verwandelt“ (metamorphoumetha) steht im Präsens Indikativ Passiv. Das Wort beschreibt hier einen Zustand, der der Realität entspricht. Ob du es merkst oder nicht, du wirst verwandelt. Du kannst es nicht verhindern, wenn du Jesus konzentriert anschaust und anfängst ihn zu reflektieren. Es ist Gott, der in diesen Dingen dein Herz verwandelt. Diese Doppelbedeutung wird deutlich an den Spiegeln der Antike. Sie waren nicht aus Glas, sondern aus poliertem Silber, Messing oder Gold. Die Person sah sich, aber das Gesicht wurde durch Reflexionen des Spiegels gleichzeitig erhellt und verwandelt. Wenn du Jesus anschaust, wie du in einen Spiegel schaust, wirst du automatisch verwandelt. Das beschreibt das kontinuierliche, beständige Wirken des Heiligen Geistes. Das ist Leben im Geist. 

Das Gesicht von Jesus kann zu dem Gesicht werden, dass deine Identität bestimmt, indem du ihn konzentriert anschaust. Dadurch wirst du sehen, was er für dich getan hat, obwohl er dein wahres Gesicht kennt. Diese Erkenntnis wird dein Gesicht verwandeln, sodass du seinem Gesicht Stück für Stück ähnlicher wirst. Wie gut ist es, sehr oft das Gesicht von Jesus zu sehen. Keiner kann einem Menschen so gut das eigene Gesicht zeigen und eine Identität geben, wie Jesus.